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Eine Peep Show für Aschenputtel

Anpassung ist in dieser Zeit angesagt, um zu überleben, damit wir unsere Körper fit und unsere Beziehungen aufrecht erhalten können, damit wir weiter kreativ sein und die Sozialität der kulturellen Begegnung pflegen können. Also müssen wir uns wieder einmal neu erfinden!
Wir ziehen nämlich die Qualität der realen Begegnung mit einem wenn auch beschränkten Publikum dem sterilen Sammeln von “likes” oder “gefällt mir” vor. Denn die Flut, ja die Inflation von Filmen, Bildern und Videos zum Theater nur auf den Bildschirmen zu konsumieren, das kann uns nicht wirklich begeistern. Es mag zwar, in Anbetracht der aufgezwungenen und notwendigen Abgeschiedenheit, eine Möglichkeit sein zu sagen “wir leben noch, es gibt uns noch”, aber wir wollen mehr!
Theater und Tanz sind nicht vorstellbar ohne die reale Nähe der Körper

Denn Theater setzt voraus, dass man sich trifft um zu erzählen, sich zu überraschen, sich wiederzuerkennen und miteinander zu träumen. Theater und Tanz sind nicht vorstellbar ohne die reale Nähe der Körper, ohne den Geruch von Schweiß, das Keuchen eines Schauspielers in der Anstrengung, das Sich-Teilen des Bühnenraums.
Denn was dort, in jedem Moment auf der Bühne passiert ist einzig und unwiederholbar: es kann nicht immer wieder identisch reproduziert werden wie ein Video! Gerade heute, in der Einsamkeit zu der wir verpflichtet sind, entdecken wir die Schönheit und ja, auch die Notwendigkeit dieser antiken Kunst; sie ist wie Kohle, wenn wir imstande sind sie zu entzünden, erwärmt sie uns wie kein anderer Brennstoff.
Das Theater muss also, gerade in diesem Moment, sich wieder seiner Eigenheiten bewusst werden, es muss realer Treffpunkt von Menschen, ein Kurort für die Seele werden, wo Wunden und Unbehagen Voraussetzungen sind damit Kunst entstehen kann. Den Anspruch auf unsere Eigenheiten, unser “Anderssein”, unsere Einzigartigkeit zu erheben ist heute wichtiger denn je.
Wir wollen also lieber eine kleine Flamme aufrecht erhalten, um dann – nach Ausklingen der Pandemie – wieder ein Feuer zu entzünden. Auf diese Weise können wir unsere Identität erhalten, es wird leichter sein das Zusammensein, die Nähe zu den Anderen zurückzuerobern, um nicht mehr allein vor dem Bildschirm Kultur konsumieren zu müssen. Wieder gemeinsam uns unterhalten, so wie gestern, das muss unser Bestreben sein.
Gerade heute, in dieser tragischen Zeit der Pandemie, die uns an die Pest erinnnert, in dieser Zeit voller Leiden, Angst und Tod, stünde dem Theater so viel Material zur Verfügung.
Die großen Emotionen, die Suche nach menschlicher Schwäche, Versagen, Krankheit und Verletzungen sollten zu einer unvorstellbaren Flut von Gedanken, Überlegungen, Blicken, Stimmen, Texten, Dramaturgien führen, um das Geschehene aufarbeiten und aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchten zu können. Hier müsste das Theater, seinem ureigensten Auftrag folgend, mit kritischem Blick diese zeitgeschichtliche Episode nacherzählen, damit wir sie verarbeiten können, damit wir wieder aufstehen, uns wieder erholen können, damit wir unseren Blick auch tiefer richten und nicht nur auf die Oberfläche beschränken, damit wir die Angst und das Misstrauen wieder vergessen, überwinden und uns neue Welten, ein neues Zusammenleben erneut vorstellen können.
Leider beschränkt man sich dagegen oft auf die Reproduktion des Vergangenen anstatt sich zu fragen, was derzeit und in nächster Zukunft zu tun wäre.
Dabei vergisst man scheinbar, dass auch das Theater ein Ort der “Ansteckung” war und ist: die Künstler infizieren, sie stecken an um zu heilen; gerade so wie eine Impfung das Immunsystem anregt um eine Krankheit zu heilen.

Wir werden all unsere Energie einsetzen um eine Theater-Peep-Show auf die Beine zu stellen.

Diese Überlegungen haben uns zu folgender Entscheidung geführt: wir werden nicht in Videos, Filmaufnahmen oder Streaming investieren, sondern wir werden all unsere Energie einsetzen um eine Theater-Peep-Show auf die Beine zu stellen. Es mag vielleicht nicht eine besonders originelle Idee erscheinen, aber es sollte uns allen wieder die Möglichkeit geben unserer Arbeit nachgehen zu können. Und das ist keine Kleinigkeit, gerade für unser Ensemble, das über 10 fix engagierte Schauspieler und mehrere weitere Angestellte verfügt.

Eine szenische Anordnung, von Roberto Banci entworfen, bestehend aus einer runden Plattform in der Mitte, die von 16 Einzelkabinen für die Zuschauer umgeben ist.

Ein Fenster, das den Blick auf die zentrale Bühne frei gibt. Diese szenische Anordnung stellt auch ein dramaturgisches Element dar, real und konkret, in dem unterschiedliche Möglichkeitem ausgelotet werden können.
Indem wir einen Theaterraum erfinden, der uns und den Zuschauern absolute Sicherheit gewährt, können wir weiterhin unserer Arbeit als Schauspieler und Performer nachkommen, wir können die Beziehung zum Publikum aufrecht erhalten, kurz gesagt wir können wieder “live” sein!
Die Peep Show ist par excellence (schlechthin) der Ort des voyeristischen Blicks, wo man, selbst versteckt, wie durch das Schlüsselloch auf das Geschehen blickt. Diese Situation kann für ein Theater zahlreiche Perspektiven eröffnen. Für jeden Zuschauer gibt es eine vierte Bühnenwand, wenn auch kleinen Ausmaßes.
Wer hingegen innen, auf der runden Plattform der Bühne auftritt, kann das Publikum nicht sehen, dieses will auch nicht gesehen werden. Trotz der Abgeschiedenheit ergibt sich durch eine solche Anordnung, durch die Beschränktheit des Raums, ein intimes Verhältnis zwischen Zuschauer und Schauspieler, eine Nähe die etwas von einem Beichtstuhl hat. Nicht zufällig wird sie auch meist als Ort eines “verführerisch – sinnlichen” Spiels, bei gleichzeitiger Betonung der intimen und privaten Dimension genutzt.
Der Exhibizionismus, das einem versteckten Blick ausgesetzt sein, das seinen Körper und seine Gefühle wie im einem Schaufenster darzustellen, wird auch zu einem zusätzlichen sinnlichen Erlebnis für Publikum und Akteure führen.

Eine Peep Show für Aschenputtel

Unser für die Peep Show geschaffenes Theater/Tanz-Stück wird sich frei an das Märchen “Aschenputtel” anlehnen. Es stellt dies für uns eine Rückkehr zu den Archetypen des Märchens dar, die wir bereits mit H+G (Hänsel und Gretel) unter der Regie von Alessandro Serra und zuletzt, in der vergangenen Theatersaison, mit Bianca & Neve – Schneeweiß experimentiert hatten.
In unserer neuen Kreation geht es also um zwei Schwestern die, in Wettbewerb untereinander, ihr Stück, ihre Show vorstellen, damit sie angeschaut, gesehen und entdeckt werden können. Vielleicht findet sich ja in ihrem Publikum der Märchenprinz, der den Wunsch nach “sozialem Aufstieg” für die Schwestern erfüllen kann? In diesem Märchen geht es viel um “Erscheinen/Scheinen”, um “Wünsche” und um “sich weh tun um der Schönheit willen”.
Aschenputtel wird sich, nach der Wiederaneignung ihrer Schönheit und Körperlichkeit, nach ihrer
beschwerlichen und leidvollen Verwandlung hingeben; aber ihre Schönheit wird nicht nur mehr dem Prinzen vorbehalten sein, nein, wer bereit ist dafür zu bezahlen kann sie ebenfalls bewundern und ihre Geschichte anhören.
Außerdem wird Schneewittchen in dieser Zeit überhaupt sehr viel zu tun haben: sie muss andauernd putzen, aufräumen und desinfizieren! Jedesmal bevor eine Aufführung beginnt müssen die 16 Kabinen für die Zuseher, die Bühne und alles rund herum einer gründlichen Reinigung unterzogen werden!
Den Rest der Geschichte könnt ihr ab Oktober 2020 live miterleben.

Pandemie wird in der Theaterwelt ein Massaker unter den unabhängigen Ensembles anrichten

Abschließend noch eine Überlegung und eine Bitte: diese Pandemie wird in der Theaterwelt ein Massaker unter den unabhängigen Ensembles, die auf den “Markt” angewiesen sind und nicht von Subventionen leben, anrichten. Diese sind aber aus dem künstlerischen und sozialen Milieu nicht wegzudenken.
Das künstlerische und technische Personal, seit je her nur mit provisorischen, zeitlich begrenzten Anstellungsverhältnissen angestellt, riskiert den Job zu verlieren. Es ginge so ein unschätzbaer Reichtum an Gedanken, Formen, Aufführungen und Experimenten verloren, welche die Vielfalt und Lebendigkeit der Kulturszene ausmachen.
Retten werden sich vielleicht die großen, öffentlichen Institutionen, aber wenn rund um sie gähnende Leere herrscht, ist unser Konzept von Demokratie und Pluralität in Gefahr, was nicht nur die direkt Betroffenen, sondern die gesamte Gesellschaft beunruhigen müsste.
Es ist also die Gelegenheit um die prekären Arbeitsverhältnisse von Künstlern und Angestellten im Show-Business näher zu beleuchten und Wege für eine größeren Schutz dieser Kategorien zu finden.